Tangotexte
Urteil (Sentencia)

Im Gerichtssaal plötzlich
war Schweigen,
als aufrecht wie eine Eiche
der Ganove mit klarer Stimme sprach.

Ich, Herr Richter, wurde in der Vorstadt geboren,
in der Vorstadt, wo einen das Elend verzweifeln läßt,
im sozialen Morast, wo eines Nachts
die Armut eine Bleibe gefunden hatte.
Als kleiner Junge wühlte ich bereits im Schlamm,
in dem alles, was groß ist, in Fäulnis verfällt.
Wie man dort lebt, Herr Richter, das muß man sehn,
um danach zu wissen, wie man bestraft.

Eine Laterne, die einer traurig verödeten Straße
mit ihrem Lichtschein ein Farbmotiv gibt,
war die Zärtlichkeit meiner Mutter, meiner geliebten Alten,
die es verdienen würde, Herr Richter, als Heilige verehrt zu sein.
Auf der Straße meines Lebens war sie das Licht einer Laterne.
Nun bedenken sie, daß in jener Nacht, als jener Schurke
auf ihre weißen Haare sein niedriges und grausames Wort spie,
ich, vom Zorn geblendet, Mann gegen Mann und ohne Vorteil
aus der Liebe als Sohn, aus meiner heiligen Liebe,
ohne zu denken, verrückt vor Wut, ihn tötete wie ein Mann.

Vergessen sie einen Moment ihre Pflichten,
und lassen sie die Stimme des Gewissens sprechen,
bevor sie entscheiden, wieviel Jahre Zuchthaus
ich als Mann und Sohn bekomme.
Und wenn sie mich nach dem Gesetz verurteilen,
hier steh ich, um das Urteil auf mich zu nehmen;
aber sollten sie einmal ein Schimpfwort über ihre Mutter hören,
dann, Herr Richter, werden sie es wohl bereuen.

Der Gerichtssaal, Damen und Herren,
erstickt im Schweigen.
Als der Ganove weinte,
weinte die Seele
des Volkes über ihr Leid.


Text: Celedonio Esteban Flores
Musik: Pedro M. Maffia
Entstanden 1923. Uraufgeführt vom Orchester Julio De Caro

(Quelle: Tango, von Dieter Reichardt. Über dieses Buch wurde bereits hier berichtet)
Samstag, 10. April 2004, 00:05, von karl | |comment